





Weimar ist ein Schloss
In den ersten Wochen in Weimar wurden mir sehr viele Menschen vorgestellt. Ich weiß gar nicht, wie ich mir so viele Namen merken soll!
Um mich davon zu erholen, bin ich immer wieder mit der Kutsche ausgefahren. Meine Kammerzofe begleitete mich. Diese Ausfahrten nutzte ich, um meine neue Heimat kennen zu lernen.
Denn erzählt hat man mir bisher über Weimar viel, doch gesehen habe ich erst wenig.
So habe ich nach und nach den Park an der Ilm erkundet, die Schlösser Belvedere, Tiefurt und Ettersberg besichtigt. Alle Schlösser sind von herrlicher Natur umgeben, die zum Spazierengehen und Picknicken einlädt.
Eines Tages befahl ich dem Kutscher, stadteinwärts zu fahren.
Wir fuhren über holprige Straßen, die wir mit Federvieh, Schweinen und Ziegen teilen mussten.
Das erklärte den ländlichen Geruch, der überall dort war, wo zwischen den kleinen, geduckten Häusern Scheunen standen, dahinter mit Stall.
Der Kutscher musste oft Schritttempo fahren, um uns den Weg zwischen den Tieren zu bahnen.
Die Straßen waren eng und winklig, und selbst die Bürgerhäuser so klein, dass außer den fürstlichen Gebäuden nur die zwei Kirchen und das Rathaus über sie hinaus ragten.
Die Häuser waren zumeist nur mit Stroh oder Schindeln gedeckt. Gott behüte, dass hier einmal Feuer ausbricht!
Meine Kammerzofe Sophie, die mich aus Russland hierher begleitete, machte sich mit dem Alltagsleben in Weimar schneller vertraut, als es mir selbst möglich war. So wusste sie, dass hier zwei Bäche durch die Stadt fließen: die Lotte und der Asbach. Nach Einbruch der Dunkelheit ist es daher ratsam, aber auch der verschmutzten Straßen wegen, Laterne oder Fackel mitzunehmen, denn Straßenbeleuchtung ist hier noch rar.
Um 21 Uhr 30 ist Sperrstunde.
Wer bis dahin nicht eines der vier Stadttore Weimars passiert hat, muss Strafe zahlen, das so genannte „Sperr-Geld“.
Sophie wusste so lustige Geschichten zu berichten:
Spätkommende schleichen durch die Gärten, oder gar durch Hintertüren der Häuser, die an der Stadtmauer gebaut sind. Oder sie überklettern sie gleich an den niedrigeren Stellen. Werden sie entdeckt, müssen sie Strafe zahlen.
Auf zwei Wochenmärkten bieten die Bauern aus den umliegenden Dörfern Blumen, Gemüse und Fleisch an.
Dreimal im Jahr versammeln die Kram- und Viehmärkte die Bauern, Handwerker und Viehhändler aus dem Herzogtum in Weimar.
Und dann gibt es noch den Zwiebelmarkt, der neben kunstvoll geflochtenen Zwiebelzöpfen allerlei Musik und Unterhaltung bietet.
Vielleicht das beliebteste Fest in Weimar ist aber das Vogelschießen. Es findet jeden Sommer statt und zieht zahlreiche Besucher aus dem gesamten Herzogtum an.
Sophie fand zudem heraus, wie ich von hier aus Briefe verschicken kann. Viermal die Woche hat das Weimarer Postamt geöffnet und ist über Buttelstedt an die großen Postrouten angeschlossen.
Ich werde bestimmt sehr viele Briefe schreiben, denn fernab von Russland sind sie meine einzige Verbindung zu meiner Familie.
Zweimal die Woche erscheint in Weimar eine doppelseitige Zeitung. Zudem gibt es das „Journal des Luxus und der Moden“, das aber eher der Unterhaltung dient.
Ich wollte von Sophie wissen, womit hier die Menschen denn ihr Geld verdienten?
Tischler, Schuhmacher, Schneider, Bäcker, Fleischer, Gastwirte, Schmiede, Böttcher, Maler, Nadler, Wagner, Gürtler.
Und dann gibt es solche, die ausschließlich vom herzoglichen Hof leben:
Kupferstecher, Posamentierer, Goldschmiede, Perückenmacher.
Dazu kommt das Hofgesinde:
die Bediensteten der herzoglichen Familie und die, die in der Küche, Marstall, der Kapelle oder im Theater angestellt sind.
Und natürlich die Verwaltungs- und Polizeibeamten.Neben einigen Ärzten, Anwälten und Pfarrern gibt es viele Tagelöhner, die von der Hand in den Mund leben.
Im Grunde sind sie alle mittelbar oder unmittelbar von der herzoglichen Familie abhängig. Ja, das habe ich geahnt! Weimar ist ein großes Schloss!
Der herzogliche Hof ist groß, es gibt viele Adlige und im Verhältnis zu ihnen ist Weimars Bevölkerung klein.
Ich wollte nun wissen, ob es hier viele Arme gäbe.
Nun ja: Hier sind selbst die Adeligen nicht reich. Und erst recht nicht die Bürger. Der größere Teil der Menschen in Weimar lebt in Armut. Oft reicht das Einkommen nicht, so halten die, die es können, Tiere und ziehen in ihren Gärten Gemüse für die Küche.
Manche fischen und jagen ohne Erlaubnis und riskieren, dafür bestraft zu werden. Jahr für Jahr werden zudem Hunderte Bettler aus der Stadt gewiesen.
Das Gehörte machte mich nachdenklich.
Sicherlich, auch in Russland gibt es Armut. Aber es gibt auch Mildtätige, die sich um die Armen kümmern.
Meine Mutter unterstützt viele solcher Organisationen. Als ich nach Weimar kam, hat sie eine schöne Summe Geld in einer hiesigen Bank angelegt, aus der jedes Jahr sechs arme Weimarer Mädchen ausstaffiert werden sollen, wenn sie heiraten.
Das sollte jedoch nur ein Anfang sein.
Ich möchte in Zukunft genauer hinsehen und hinhören, wo meine Hilfe benötigt wird. Ich hoffe dabei auf die Hilfe der Weimarer Frauen, mit mir zusammen ähnliche Organisationen zu erschaffen, wie wir sie in Russland haben.
Ich glaube, dass mich das Schicksal deshalb nach Weimar geführt hat, um meine Kraft zum Nutzen der gesamten Bevölkerung wirken zu lassen.