


Carl August und der Wolf
Wir schreiben das Jahr 1824, es sind Sommerferien.
Ein ungewöhnliches Treiben herrscht am Weimarer Schießhaus. Handwerker und ihre Gesellen kommen mit Planwagen angefahren, bauen Stände auf. Ein Hämmern und Klopfen überall.
Soeben prasselte noch ein warmer Aprilregen auf die Emsigen herunter, doch jetzt erstrahlt wieder alles in sommerlicher Frische. Einige Marktfrauen packen ihre Waren auf die fertigen Stände, Scharen von Kindern verfolgen das bunte Geschehen.
Am Nachmittag beginnt das Vogelschießen in Weimar.
Unten in der Stadt sind die Wirtshäuser schon voller Gäste, von nah und fern angereist.
Der Strom der Schaulustigen reißt nicht ab, das Volksfest zieht sie an, wie ein Magnet. Die Weimarer gehen in lustigen Grüppchen durch das Kegeltor, manche tragen Picknickkörbe und reden und scherzen laut. Sie steigen den Weg nach Tiefurt hinauf bis zum Schießhaus.
Das dreiflügelige Haus steht am Anfang des Webichts. Der bunte Festplatz füllt sich langsam mit Buden und Feierlustigen.
Der hölzerne Vogel ist auch schon aufgestellt.
Prachtvoll bemalt, wird er bald zur Zielscheibe der besten Schützen aus Weimar. Erst werden die Federn, Augen, Zepter und Krone des Vogels abgeschossen. Dann wird der ‚ÄûVogelkönig‚Äú gekürt. Vogelkönig wird, wer am Ende das Herz des Vogels abschießt.
Auf der Schießhausallee, etwas weit ab vom Treiben, sind mehrere Menagerien aufgestellt. Löwen und Tiger liegen in ihren Käfigen auf dem Bauch und blicken scheinbar gelangweilt auf das Geschehen.
Die Großkatzen sind aber nicht die Attraktion für die Schaulustigen, sondern ein großer, kräftiger, schwarzer Wolf. Man sagt, er ist der Anführer des Wolfsrudels gewesen, als man ihn in die Falle gelockt hat.
Und genau vor seinem Käfig entsteht augenblicklich eine kleine Aufregung: Der alte Herzog Carl August kommt!
Der Herzog, das weiß jeder, ist ein echter Freund der Tiere.
Wenn er unterwegs ist, so reitet er oft auf seinem Pferd und lässt sich von seinen Hunden begleiten. Aber ein Wolf! Den bekommt man hier selten zu Gesicht.
Trotz seines Alters geht der Herzog mit federndem Gang zu den Menagerien. Der Bürgermeister begleitet ihn. Carl August erblickt den Wolf und läuft schnurstracks zu seinem Käfig. Er hockt sich hin und streckt die Hand aus, um die dicke Halskrause des Tieres zu kraulen.
In dem Augenblick geht ein Raunen durch die Umherstehenden: Das ist doch ein wildes Tier! Aber keiner wagt es, den Herzog anzusprechen. Denn einen echten Herzog dürfen nur wenige direkt anreden.
Da fasst sich der Menageriebesitzer ein Herz und sagt mit erschreckter Miene dem Bürgermeister: ‚ÄûMögen Sie, verehrter Herr Bürgermeister, die Majestät, den Herzog Carl August, warnen, dass dieser Wolf ein besonders böses, bissiges Tier sei und dass er seine Hand wieder zurückziehen möge!‚Äú
Carl August hört den Einwand und antwortet lächelnd: ‚ÄûLassen Sie das nur gut sein! Die Bestie weiß, wer es gut mir ihr meint!‚Äú Und lässt sich dabei nicht stören.
Dem großen Wolf scheint indessen die ungewohnte Zärtlichkeit zu gefallen. Er zieht seinen Mund bis zu den Ohren und zeigt dabei seine kräftigen gelben Zähne. Dazu knurrt er, etwa wie ein Hund, aber freundlich.
Irgendwann zieht der Herzog seine Hand zwischen den Eisenstangen heraus und da die Menge sieht, dass sie ihm nicht abgebissen wurde, zerstreut sie sich. Der Bürgermeister wischt den Schweiß von der Stirn und begleitet den Herzog erleichtert zu seinem Pferd zurück.
Nun kann das Fest beginnen!